Hara - die Erdmitte

Von Kosan19. Dezember 2024

Sobald wir uns mit asiatischen Künsten, insbesondere der Zen Meditation oder den japanischen Kampfkünsten befassen, begegnen wir dem Begriff „Hara“. Karlfried Graf Dürckheim hat mit seinem bekannten Buch „Hara – die Erdmitte des Menschen“ einen zeitlosen Klassiker verfasst und gilt als einer der Pioniere des Zen im Westen. „Hara“ ist jedoch nur ein Begriff von vielen für ein- und denselben Raum, denn „Hara“ ist mehr als ein Konzept oder ein Begriff. Es handelt sich hier um das was wir in unserer Alltagssprache schlichtweg „Mitte“ nennen und meistens kennen wir diesen Ausdruck aus Redewendungen wie z.B. „nicht in seiner Mitte sein“. Aber was bedeutet es konkret in seiner Mitte zu sein und warum ist das für uns Menschen so wichtig? Einige Aspekte des Hara möchte ich aus eigener Erfahrung hier gerne beleuchten...

Ein Raum – viele Begriffe

Mit der Sprache ist es so wie mit dem Finger, der auf den Mond zeigt. Es geht um den Mond, nicht um den Finger, welcher auf den Mond weist. So ist unsere Sprache begrenzt und gerade bei etwas „nicht fassbaren“, wie die (energetische) Mitte des Menschen vollkommen unzureichend. Das Leben aus der Mitte, aus dem Hara, möchte erfahren und vor allem gelebt werden. Aber wie geht das, ein Leben aus der Mitte? Aus dem Hara?

Lass uns für ein besseres Verständnis einige Begriffe näher betrachten, die ein und dasselbe beschreiben. Wenn man sich in japanischen Künsten bewegt, spricht man von Hara. Ist man im Reich der chinesischen Medizin oder im Qigong und / Taijiquan bewandert, heißt es „(unteres) Dantian“. Lehrt oder lernt man Yoga hört man von den verschiedenen Chakren. All diese Begriffe beschreiben Zentren, man könnte sie auch als „Energiefelder“ oder „Kraft Räume“ bezeichnen. So gibt es verschiedene Begriffe, die im Grunde alles dasselbe meinen: unsere energetische Mitte, die im Bauch- / Beckenraum verortet wird. Man könnte dieses Zentrum auch als „Sammelpunkt der inneren Kraft“ bezeichnen. Es geht also nicht um körperliche (Muskel) Kraft, sondern um eine „innere Kraft“. Diese trägt ebenso vielfältige Namen wie unsere Erdmitte: Qi (chinesisch), Ki (japanisch), Prana (indisch), Orgon (bei Wilhelm Reich).

Kontinuierliche Übungspraxis ist ein wichtiger Schlüssel auf dem Pfad das Hara zu kultivieren.

Auf meinem Übungsweg habe ich lange Zeit nur Bahnhof verstanden. Und rückblickend ist es mir auch vollkommen klar, warum ich kognitiv nichts verstanden habe: es gibt kognitiv nichts bzw. nicht viel zu verstehen. Es möchte die Fähigkeit kultiviert werden das eigene Hara zu spüren bzw. bei der Hara – Diagnose, das Hara unserer Mitmenschen zu erfühlen. Es ist ein Erfahrungsweg und dies wiederum ist ein Prozess, der sich danach richtig wie viel „Spür-Talent“, Übung und Hingabe wir auf dem Weg mitbringen. Denn eines ist klar: das Erspüren lässt sich willentlich nicht erzwingen. Im Gegenteil, je mehr „ich will“ desto weniger spüre ich. Und so sind wir beim nächsten Schlüssel auf dem Weg zu unserer Erdmitte:

Das Erfühlen bzw. Erspüren ist der einzige Weg das Hara wirklich zu ergründen. Alles andere sind nur Konzepte bzw. leere Worthülsen, die vielleicht hilfreich sein mögen, aber weitaus häufiger den Weg zur tatsächlichen Erfahrung verbauen.

Warum ist das Bewusstsein des Hara im Alltag so wichtig?

Ein Bewusstsein für die eigene (energetische) Mitte zu kultivieren ist nicht nur für uns als Lehrende wertvoll, sondern für jeden von uns essentiell. Ein starkes Hara zu kultivieren bedeutet, dass wir ein tief verwurzelter standfester Baum den Stürmen des Alltags begegnen können.

Woran erkenne ich, dass ich (höchstwahrscheinlich) nicht in meiner Mitte bin?

- ich fühle mich nach Begegnungen / Tref oft / häufig erschöpft

- nach einem Arbeitstag fühle ich mich total „ausgesaugt“

- ich fühle mich oft nicht in meiner Kraft, ich bin schon müde bevor ich meine Arbeit aufnehme

- ich bin nicht in meiner Mitte, was sich wie folgt zeigen kann: „ich bin innerlich unruhig“, „ich bin unsicher“, „ich fühle mich durcheinander“, „ich fühle mich nicht ganz da / wach / präsent“, „ich bin unklar“, „ich fühle mich instabil“, „ich leide mit meinen Patienten zu sehr mit“

Wenn wir nicht in unserer Mitte ruhen, können wir als Lehrende den Weg in die eigenen Mitte weder authentisch verkörpern noch vermitteln.

Das Hara und die Hochsensiblen
In seiner Mitte zu sein bedeutet daher in seiner Kraft zu sein. Das Leben kraftvoll und authentisch auszudrücken, die Lebenskraft lebendig zum Ausdruck zu bringen. Grundsätzlich ist das Bewusstsein für die eigene Mitte für jeden Menschen wichtig, aber für hochsensible Menschen ist das Leben aus der Mitte meiner Erfahrung nach eine besondere Herausforderung.

Die Hochsensibilität ist ein eigenes Thema, welches ich hier im Rahmen dieses Artikels, leider nicht behandeln kann. Aber einige Worte möchte ich dennoch darüber an dich weitergeben. Die (Hoch)Sensibilität ist eine Gabe und zugleich eine Aufgabe, in einer Welt die immer „gröber“, Reiz überfluteter und schnelllebiger wird. Ohne eine echte Integration bzw. Verkörperung dieser Gabe, stehen wir als sensitive Menschen großen Herausforderungen in unserem gewöhnlichen Alltag gegenüber.

Aus meiner persönlichen Erfahrung wie auch aus der Begleitung von unzähligen (hochsensiblen) Menschen über die vergangenen fünfzehn Jahre kann ich es wie folgt komprimieren und das ist auch der nächste Schlüssel zur Kultivierung des Hara:

Erdung, Zentrierung und eine gesunde Abgrenzungsfähigkeit sind für alle Menschen wichtig, aber in einem besonderen Maße für (hoch)sensible Menschen bedeutsam. Das eigene Hara zu kultivieren bedeutet die eigene Erdmitte und eine gute Verwurzelung / Erdung zu pflegen.


Die Stärkung unserer Mitte bedeutet, dass wir aus unser selber Kraft schöpfen lernen und das Qi empfangen, sammeln und konzentrieren können. Das untere Dantian ist nicht umsonst in Künsten wie Qi Gong, Taijiquan ein wichtiger Sammlungsort für unsere Energien. Je bewusster wir unserer Erdmitte werden, umso kraftvoller leben wir aus ihr heraus. Mit einem starken Hara können den Stürmen des Lebens besser „Stand halten“ und gefestigter durch Krisen gehen.
Ohne ein stabiles Hara kann uns alles, was uns im Leben begegnet, immer wieder "aus unserer Mitte werfen" und von ihr ablenken. Es ist wie bei einem Rad: der unzentrierte Mensch verweilt immer in den vielen verschiedenen Speichen des Rades und an der Peripherie, der Zentrierte bleibt im Mittelpunkt, in der Nabe.

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